Buchtrailer


Hörpoben

Auszug aus Kapitel 3 - Kassandra, Taxi Berlin und die Relativität der Zeit

 

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Auszug aus Kapitel 10 - Mit dem Bus nach Tampere und eine seltsame Begegnung

 

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Leseproben

Kann man sich in eine Stadt verlieben? So, wie man sich in einen Menschen verliebt? Kann man sich mit all seinem Fühlen und Denken in einem Ort verlieren, sich in ihm verlaufen, als verlaufe man sich absichtlich, um nie wieder herauszufinden?

Mir jedenfalls ist es so ergangen. Tampere, in Finnland betont man meist die erste Silbe eines Wortes und das „R“ wird gerollt … tAMmperre … Allein der Klang ihres Namens ist wie eine Melodie …

Tampere, diese drittgrößte Stadt im Südwesten Finnlands, die mich in ihre Wasserarme nahm, die mich umschmiegte mit ihrem Wälderleib, ihrem großstädtischen Kleinstadtcharme und mich nicht mehr losließ. Tampere, herausreißen musste ich mich aus dir und nahm Stücke von dir mit, weil ich nicht gehen wollte. Tampere … Manchester des Nordens. Mit seinen Fabriken und Kneipen, kleinen und großen Häusern aus Stein und Beton und Holz, Holz, Holz.

Tampere, die Stadt mit ihren eisigen Februarstürmen und den pechschwarzen Schneewänden an den Rändern der viel befahrenen Straßen und mit all ihren Menschen.

Menschen, wie sie überall sind auf dieser Welt, mit ihren seltsamen Menschlichkeiten. Tampere, die Stadt mit den Verrückten und Bettlern, den nach Flaschen in Müllkübeln suchenden und an Bushaltestellen Kippen schnorrenden, den Gras oder Koks tickenden Menschen, die flüsternd durch die Straßen schwebten und stets ihr leises Mantra sangen: „Kokain, Weed, Meth … Kokain, Weed, Meth…“

 

Tampere, mit seinen Künstlerinnen und Künstlern, den Studierenden, den Schreibenden, den früh Feiernden, weil die Tage zu kurz waren. Tampere, mit seinen betrunkenen Girls, die in den Bussen die Passagiere beleidigen, den ausländischen Menschen, den „urfinnischen“ Männern mit ihren kleinen, knolligen Nasen und den „urfinnischen“ Frauen mit ihren unter Wollmützen versteckten, blonden Haaren, den auch im Winter in knappen, bauchfreien Shirts bekleideten Mädels, den Schweigsamen und den Lauten, den Musikerinnen und Musikern, den Macherinnen und Machern, den Obdachlosen, die man kaum sah, die es aber gab, den Drogensüchtigen und „Druffies“, die auf den Straßen laut sangen oder sprachen, mit Menschen, die nie da waren, und ihren seltsamen Bewegungen, wegen derer man sie anstarrte, wie man überall auf der Welt solche Menschen anstarrt…

 

Tampere mit seinen viel zu nüchternen Geschäftsleuten und Büroangestellten, den Normalos und Unnormalos…

Tampere, diese Stadt mit ihren großartigen Tempeln und ehrfürchtigen alten Gebäuden und den urtypischen Holzhäusern, mit ihren kaputten Straßen, mit ihrem Stadion und dem Aussichtsturm, mit den Tammerkoski Stromschnellen, die die Seen Näsijärvi und Pyhäjärvi verbinden, und mit dem Mumins-Museum…

 

Tampere, diese fröstelnde und glatte, gleißende und dampfende Stadt, deren Zentrum für mich das Laikku war und meine Haltestelle Keskustori B und dem R-Kioske, in dem ich stets meinen Tabak kaufte und mein Karhu, Papers und die finnische PrePaid Karte mit unbeschränktem Datenvolumen bekam, mein von Keskustori nach Haihara rumpelnder Bus, in dem ich Ängste wie selten zuvor ausstand, und so heimlich wie vorsichtig mein Bier trank, damit ich es mir nicht über die Jacke kippte, wenn einmal mehr ein Schlagloch groß wie eine Badewanne das Gefährt erbeben ließ, und ich es trotzdem oder gerade deshalb so wundervoll fand, in der Öffentlichkeit zu trinken, wo Trinken in der Öffentlichkeit verboten war.

Tampere, mit deinen Kneipen und dem teuren Bier, deinen ureigenen Mustamakkara und deinen Einkaufszentren und kleinen Cafés, mit deinen Stadtteilen, die wie Dörfer wirkten, aber wie Großstädte klangen, als wärst du ein Stadt gewordenes Puzzle, mit deinen Wäldern, die dich einklemmen, ohne dir deine Freiheit zu nehmen, mit deinen breiten Straßen und engen Gassen, mit deinem Geruch nach Welt und Welt und noch mehr Welt, mit deinem freundlichen Gesicht, mit deinen offenen Wasserarmen, mit diesem Winter, der selbst dir zu schwer war, zu außergewöhnlich, in dem wir uns kennenlernten…

 

Du und ich, Tampere, vereint in diesem Februar zweitausendzweiundzwanzig, der dich in seinem Schnee gänzlich zu versenken drohte, und der Arme brach und Beine, weil deine Straßen und Gehwege glatt und schwer passierbar waren, in diesem Februar, der so schicksalsträchtig war, als der Krieg an die Türen zur Welt klopfte und das Klopfen an der östlichen Eintausenddreihundertkilometergrenze deines Landes zu laut wurde und uns allen der Atem stockte…

 

Tampere, mit deinem „Central Square“ an der Hämeenkatu, der einst Kauppatori hieß und heute Keskustori, umgeben vom Rathaus und der alten Kirche, dem Theater mit seinem Café, das immer geschlossen war, und dem Laikku, dem Kulturhaus, das mein Zentrum war, und deinem Bahnhof und den defekten Zügen und deinen Taxifahrern, die weder deutsch noch englisch sprachen, mit deinen rotgelb leuchtenden Lichtsmognächten, in denen ich schrieb und schnitt und in Kameras sprach und nachdachte und wanderte und trank und spürte, dass du, Tampere, mir Wendepunkte injiziertest, wie einem Probanden ein noch unerforschtes Serum gegen die Infektion Leben.

 

Tampere, schon nach wenigen Minuten in dir sang Elvis in mir: Now I’m / falling in love / with you.

 

Tampere nahm mich an die Hand und führte mich zu mir, als ich im Februar ‘22, anfangs nur des Geldes wegen, in der finnischen Kulturhauptstadt aus dem Zug stieg, mich beinahe widerwillig durch die Kälte schieben ließ, getrieben von einem Muss, denn ich hatte ja keine Wahl.

Seit Wochen stapelten sich die ungeöffneten Briefe auf meinem Schreibtisch. Briefe von Anwaltskanzleien und Inkassobüros, den Leipziger Stadtwerken, der Hausverwaltung und verschiedenen Verkehrsbehörden. Das Telefon hatte ich meist stumm geschaltet. Weder wollte ich mit Behörden oder irgendwelchen (amtlichen) Gläubigern reden, noch mit Menschen, die Freunde waren oder dachten, dass sie es seien.

Die Vormittage nutzte ich, um die wichtigsten Dinge abzuarbeiten, aber schon nach zwei Stunden fehlte mir die Kraft und ich asselte auf meiner Couch zwischen Kaffeetassen und leeren Bierflaschen, vollen Aschenbechern, schmutzigem Geschirr und Essensresten, schaute Dokus oder schlief. Selbst das Wachbleiben kostete Kraft. Gelesen hatte ich schon lange nicht mehr, vom Schreiben ganz zu schweigen.

 

Ich war mal wieder pleite und der Druck der Schulden lastete auf mir wie die tiefgrauen Wolken an diesem schmutzigen Januarhimmel. Ich rauchte zu viel, ich trank zu viel, ich wollte zu viel und schaffte zu wenig. „Du musst doch nur deinen Arsch hochkriegen“, hatten sie gesagt, die Menschen, die dachten, dass sie Freunde seien und ihre pseudoklugen Ratschläge wie Rezepte verteilten. „Depression? Ich hab mal gelesen, dass Spazierengehen da hilft. Du musst einfach nur rausgehen!“ Ja sicher, Spazierengehen… Die Ultima Ratio gegen eine Lähmung war und ist Bewegung. „Wie, Du sitzt im Rollstuhl? Du musst einfach nur aufstehen und loslaufen!“

Es war eher Zufall, dass ich aufs Display schaute, als das Telefon einmal mehr penetrant vibrierend auf der Glasplatte meines Couchtisches zu wandern begann, als wolle es sich an dessen Rand in den Abgrund stürzen.

 

„Ralf“ stand da auf dem Display. Ich hielt das Smartphone in meiner Hand, starrte auf den Namen und ließ es zunächst vibrieren. Irgendwann verstummte das Brummen, die automatisierte Benachrichtigung eines verpassten Anrufes ploppte auf und zeigte, dass Ralf in den letzten beiden Stunden bereits sieben Mal versucht hatte, mich zu erreichen.

Ich kannte viele Menschen, hatte viele Bekannte, aber nur wenige wirkliche Freunde. Und Ralf war ein wirklicher Freund. Schlechtes Gewissen überkam mich, ich entsperrte den Bildschirm und tippte auf den Rückruf-Button.